Wie eine verwunschene Prinzessin
Fränkische Wildpflanzen (4): Ein Porträt der Gemeinen Wegwarte

Es ist dem Chicoree, einer beliebten Salatsorte, keineswegs anzusehen, daß er von einer auffälligen Wildpflanze unserer Heimat abstammt: der blau blühenden Wegwarte, die mit Vorliebe an Straßen- und Wegrändern, auf Schuttplätzen und steinigen Feldern vorkommt. Zufall und Züchterfleiß machten aus der wilden Zichorie einen schmackhaften Wintersalat. Im Jahre 1870 fuhren belgische Bauern eine "Jahrhundert-Ernte" ein und schlugen die vorerst nicht benötigten Wurzeln in die Erde. Die daraus im Winter treibenden Blätter erwiesen sich bald als bekömmlicher Salat, dessen Qualität und Ertrag durch gärtnerische Auslese in der Folgezeit noch verbessert werden konnten.

Aber nicht erst die kultivierte Form, schon die Wildform der Wegwarte wurde vom Menschen angebaut und genutzt. Im Wechselanbau mit Zuckerrüben bewährte sich ihre Fähigkeit der biologischen Schädlingsbekämpfung, auf die man sich heute - geläutert durch die schlechten Erfahrungen mit chemischen Giften - wieder besinnt: die dicke, rübenartige Wurzel der Wegwarte sondert Stoffe ab, die Fadenwürmer vertreiben.

Große Bedeutung erlangte die Pflanze im 18. Jahrhundert. 1720 hatte der Arnstädter Hofgärtner Timme ein Röstverfahren entwickelt, mit dem er aus Zichorienwurzeln einen Kaffe-Ersatz herstellen konnte. Friedrich der Große war an diesem Verfahren sehr interessiert. Er förderte den Zichorienanbau, da er den Import von Kaffeebohnen einschränken wollte, um Devisen zu sparen.

Auch in den Notzeiten unseres Jahrhunderts war der als "Preußischer Kaffee" oder "Blümchenkaffee" bezeichnete Zichorientrank weit verbreitet. Ähnlich wie Bohnenkaffee regt er durch seinen Bitterstoffgehalt die Saftproduktion im Körper an, weckt den Appetit und fördert die Verdauung.

Die Signaturenlehre, nach der die Heilwirkung einer Pflanze an ihrem Aussehen ablesbar ist, findet bei der Wegwarte eine erstaunliche Bestätigung. So wie sie dem menschlichen Organismus hilft, trockene Zustände einzelner Organe (Leber, Niere, Magen) zu überwinden, so überwindet sie selbst durch spezielle Anpassungen mögliche Trockenheit am Standort. Der sparrige, harte Stengel und die kleinen, behaarten Blätter am Sproß verdunsten nur wenig: die bis in ein Meter Tiefe reichende Pfahlwurzel sorgt auch bei Dürre für genügend Wasser.

Völlig gegensätzlich zur Derbheit des Stengels wirken die zarten, zungenförmigen Blüten, die an den Zweigspitzen in Körbchen angeordnet sind (Korbblütler wie Löwenzahn, Schafgarbe etc.). In ihnen scheint das Blau des Himmels eingefangen. Sie sind kurzlebig, und ihre Hinfälligkeit findet besonderen Ausdruck darin, daß sie nur wenige Stunden am Morgen geöffnet bleiben. Sie geben nur zwischen 7 Uhr morgens und 12 Uhr mittags Nektar. Während dieser Zeitspanne muß die Bestäubung durch Schwebfliegen und Bienen erfolgen. Bei regnerischem Wetter öffnen sich die Blüten überhaupt nicht - ein Zeichen ihres starken Lichthungers (die Zichorie wird auch Sonnenwirbel genannt) und ihrer Empfindlichkeit gegenüber Widrigkeiten des Wetters.

Angesichts eines solchen Verhaltens ist es nicht verwunderlich, daß unsere Ahnen den Charakter der Wegwarte-Blüten in einem poetischen Bild festhielten: sie verglichen sie mit einer verwunschenen Prinzessin, die am Wegrand auf ihren Liebsten wartet, sich bei Sonnenschein hoffnungsvoll öffnet, bei Regen aber enttäuscht verschließt und nach innen kehrt.