Ein Reigen voller Leben
Fränkische Wildpflanzen (3): die Große Brennessel
Urtica dioica - der wissenschaftliche Name der Großen Brennessel
verrät gleich zweierlei über das ungeliebte Wildkraut:
"Urtica" ist abgeleitet vom lateinischen "urere
= brennen", "dioica" bedeutet "zweihäusig",
was nicht weniger als strikte Geschlechtertrennung heißt
- männliche und weibliche Blüten müssen in naturgegebener
Abgeschiedenheit an getrennten Trieben (in gesonderten "Häusern")
heranreifen. Die Distanziertheit der Geschlechter schafft ein
heikles Problem: wie finden sie sich? Um nicht ganz und gar den
Launen des Windes ausgeliefert zu sein, hat sich bei den männlichen
Pflanzen ein eigenartiger Mechanismus entwickelt. Die Staubfäden
sind in ihren Knospen wie Federn gespannt. Das Aufbrechen der
Knospe bringt ein plötzliches Nachlassen der Spannung mit
sich und löst eine Explosion aus, bei der alle Pollenkörner
ins Freie ausgestoßen werden: hin zu den empfangsbereiten
Narben nahestehender weiblicher Blütenstände ("Frauenhäuser").
Eine heftige, aber zielsichere Art, sich fortzupflanzen.
Im lateinischen wie deutschen Artnamen kommt der markanteste Zug
der Brennessel zum Ausdruck: ihre unangenehme Eigenschaft, bei
Berührung mit der Haut Brennen und Pustelbildung zu verursachen.
Kleine, schon mit dem bloßen Auge sichtbare Haare, die zu
regelrechten Injektionskanülen umgebildet sind, brechen bei
leichtem Druck ab und spritzen winzige, aber wirkungsvolle Mengen
Säure in das Gewebe des STörenfriedes. Beimischungen
von Eiweißen bewirken die akute allergische Reaktion, die
je nach Empfindlichkeit des Empfängers mehr oder weniger
heftig ausfällt. Wie effektiv dieser "feurige"
Schutzschild ist, zeigt sich daran, daß Kaninchen, die nun
wahrlich keine Verächter von Pflanzenkost sind, Brennesseln
nicht anrühren. Deshalb sieht man Urtica häufig um ihre
Bauten wachsen.
So abweisend die Brennessel für Säugetiere ist, so paradiesisch
dürfte sie einer Vielzahl von Insektenarten erscheinen. Schmetterlingsraupen
ist sie die liebste, mitunter einzig akzeptable Kost (z.B. Landkärtchen
und Kleiner Fuchs). Auch Käfer, Wanzen und Blattläuse
naschen vom leckeren Saft und Gewebe der Nessel. Und wie in ökologischen
Systemen üblich, ziehen diese Pflanzenfresser Räuber
aller Genre an: da tummeln sich die stahlblauen Larven der Marienkäfer
auf der Suche nach Blattlausbeute, die von Grashüpfern und
Strauchschnecken ebenso begehrt ist; da lauern Spinnen in ihren
Netzen auf die vielen kleinen Mücken, die rund um die Brennessel
schwirren, um dort ihre Eier abzulegen.
Ein bunter Reigen voller Leben tanzt um die Große Brennessel.
Und wem das nicht genügt, ihr einen Platz im Garten einzuräumen,
der sei noch an ihre Nützlichkeit für den Menschen erinnert:
seit alters her ist sie eine wertvolle Gemüse- und Heilpflanze.
Die jungen Blätter sind ohne Brennhaare und sehr vitaminhaltig
- ideal als Beigabe zum Frühlingswildgemüse. Gegart
in Salzwasser ergeben die Sproßspitzen einen schmackhaften
Sud, der sich, mit Zwiebel und Muskat verfeinert, bestens als
Fleischbrühe eignet. Auf alte Blätter sollte man verzichten:
der hohe Gerbstoffgehalt läßt sie bitter werden.
In nicht zu fernen Zeiten war das Nesselpeitschen von gichtkranken
Gelenken weit verbreitet. Unsere Ahnen nutzten auf diese etwas
drastische Art die Heilwirkung der Brennessel bei Rheuma und Gicht.
Die Auflage eines mit dem Sud getränkten Lappens erfüllt
den gleichen Zweck. Gemäß den Regeln der Homöopathie,
die Gleiches mit Gleichem heilt, verschafft Urtica auch bei Nesselausschlag
Linderung. Als Tee getrunken fördert sie die Ausscheidung
von Körpergiften. Nur noch historische Bedeutung hat im Zeitalter
der Synthetikfasern ihre Benutzung als Faserpflanze. Mit ihren
bis zu 7 cm langen Bastzellen (sie gehören zu den längsten
Zellen einheimischer Pflanzen) eignet sich die Brennessel für
die Verarbeitung zu besonders festen Tüchern und Stricken.
Bis in das 18.Jhd. diente sie als Kleiderstoff aarmer Leute.
Das Risiko, das der Gärtner eingeht, wenn er Brennessel duldet,
liegt in deren Vorliebe für Geselligkeit: sie bildet sehr
dichte Bestände. Mit ihrem weitläufigen Wurzelsproß-System
ist sie fest verankert, und es kostet viel Mühe sie auszugraben.
Für den Gärtner scheint das ein endloser Kampf. Doch
ist bei gutem Willen ein "Waffenstillstand" durchaus
möglich. Mit Steinplatten, die man in den Boden einläßt
(z.B. Rasenkantensteinen) läßt sich die Verbreitung
der Brennessel im Garten wirkungsvoll eindämmen. Wer ihr
ein Eckchen überläßt, in dem sie nicht stört
und etwas Sonne bekommt (z.B. als lebender Zaun am Komposthaufen),
wird mit einer reichen Tierwelt und Heilwirkung beschenkt.