Das Altertum war der subtropische Baum, die Neuzeit war der Rasen, die durchwässerte Natur. Noch vor zweihundert Jahren in Strophen an den Mond entdeckte sich das Naturgefühl, heute hat die Natur etwas Unnatürliches und Wind und Wetter wirken übertrieben. Der Mensch von heute gehört in eine Etagenwohnung, und seine Ölfeuerung beschäftigt ihn mehr als jedes Sphinxgefühl. Eine neue Geschichte beginnt, die Geschichte der Zukunft, es wird die Geschichte des mendelisierten Landes sein und der synthetischen Natur." (Gottfried Benn, 1886-1956)

Was heißt denn schon Natur?

Geländehindernisse, Kleinstrukturen, Vorfluter - das sind ein paar der Vokabeln, mit denen Behörden heutzutage Natur umschreiben. Gemeint sind im guten alten Deutsch: Wildpflanzenraine, Hecken und Bäche. Die semantischen Mutationen von Natur, die uns im Amtsjargon begegnen, sind mehr als nur Wortspiele. Die blutleere, antiseptische Sprache der Flurbereiniger, Straßenbauer und Wasserwirtschafter verrät ihre Entfremdung von dem, was einstmals fast zärtlich "Mutter Natur" genannt wurde. Lebensräume werden für sie zu Bezugsbereichen, ohne daß sie in ihren Büroetagen eine Beziehung dazu hätten. Natur wird verwaltet wie ein Konto oder eine Bibliothek. Sie ist zum Ding degradiert, zum Gegenstand ohne Eigenrecht. Der technische Verstand und seine stolzeste Inkarnation, die Maschine, dürfen schrankenlos darüber verfügen. Natur gegenüber gibt es keine Schuldgefühle mehr. Diese Entwicklung gipfelt vorerst in den Zukunftsträumen moderner Gentechnik: Was heißt denn schon Natur? Wir machen eine neue.

Die Entfremdung von Natur beschränkt sich nicht auf die Vertreter von Wirtschaft, Wissenschaft und Bürokratie. Sie ist ein kollektiver Prozess, und sie ist nicht nur ein sprachliches Problem, sondern ein existentielles. Auch wenn viele Menschen sich für Naturfreunde halten und in ganzen Galerien von Bildfolianten die Schönheit der Natur gepriesen wird, so ist es doch Tatsache, daß Natur aus dem Alltag des Europäers nahezu verschwunden ist. Wasser kommt aus der Leitung, Lebensmittel aus dem Supermarkt. Wellengang gibt es im neuen Freizeittempel und Sonne in jedem Bräunungsstudio. Statt Heilkräuter, die man kennen und mühsam sammeln müßte, bekommt man auf Rezept bunte Pillen in der Apotheke um die Ecke. Das Wetter ist "schlecht", wenn es regnet. Zuviele Bäume in der Innenstadt bringen nur unnötig Schmutz in aufwendig gestylte Geschäftsräume. Kürzlich hörte ich an der Bushaltestelle eine Frau auf herabfallende Kastanien schimpfen. Sie empörte sich über den "Dreck" auf dem Gehweg, eventuelle Schrammen im Autolack, die Ausrutschgefahr - Natur ist lästig.

Verwunderlich ist solche Reaktion kaum. Denn wirklich draußen zu sein, in freier Natur, ist für den Städter eher der Ausnahmefall. Abgesehen vom Spaziergang am Wochenende oder dem Strandaufenthalt in den Ferien dürfte sich seine Naturbegegnung in Grenzen halten. Und selbst wenn Kontakte stattfinden, sind sie in der Regel kulturell abgepuffert: dem Sonntagsausflug dienen ordentlich befestigte Wanderwege, für erholsamen Aufenthalt am Meer sorgen Liegestühle auf hoteleigenem Grund. Die vielen Annehmlichkeiten der Zivilisation stehen allerorts im Vordergrund. Natur dient als Kulisse. Wildnis ist zwar ganz schön als romantisches Bild im Kopf oder in den virtuellen Welten der Medien, als wirkliches Ereignis aber dürfte sie den meisten Zeitgenossen nur unheimlich, lästig oder gar widerwärtig sein.

Wie anders denn ließe sich dieser unstillbare Drang unserer Kultur erklären, jede Form von Wildnis als minderwertig zu klassifizieren und alles daran zu setzen, sie zu beschneiden, mit Gift zu bespritzen, einzuzäunen. Wir sind geneigt, den Wert einer anderen Kultur nicht an ihrer Großzügigkeit gegenüber Natur zu bewerten, sondern eher schon am Zustand des Straßenbelages. Es dürfte nicht zu hart gesagt sein: unser Verhältnis zu Natur ist pornographisch. Wir unterjochen die Welt der Sinne gänzlich der Macht unseres Willens.

Ein Blick in die Vorgärten einer Neubausiedlung entlarvt alle sentimentalen Bekenntnisse zu Natur, wie sie heute zum guten Ton gehören, als pure Scheinheiligkeit. Einstmalige Obstwiesen oder sonstige Biotope sind in Grünflächen verwandelt worden, die nicht mehr das Ombre der Wildnis atmen, sondern nur die Ödnis teppichbelegter Innenräume weiterführen. Natur wird, soweit finanziell irgend möglich, domestiziert, möbliert, durch Technik und Zucht "veredelt". Schon ein nicht eingefaßtes Staudenbeet etwa kann empfindliche Gartenbesitzer nervös machen.

Natur ergeht es ähnlich wie dem Christentum. Alle bekennen sich zu ihm, aber keiner nimmt es wirklich ernst. Was heute als Natur gefeiert wird, ist in Wirklichkeit ein armseliges geistiges Konstrukt und nicht die reiche biologische Realität. Jede Werbesendung demonstriert das. Natur wird dort nicht als unerläßliche Lebensgrundlage der Menschheit dargestellt und respektiert. Sie wird als willkommene Marketingstrategie mißbraucht. Die Vorsilbe Bio oder das Beiwort Natur müssen dazu herhalten, mehr oder weniger sinnlosen industriellen Produkten Adel zu verleihen. Die unberührte Landschaft im Hintergrund bringt allemal bessere Verkaufszahlen für die neue Limousine als die Staukulisse auf der A9. Die künstlichsten Waren werden mit grüner Tapete hinterlegt und entpuppen sich plötzlich als außerordentlich umweltfreundlich. So pervertiert ist der Naturbegriff bereits, daß eine alles Leben gefährdende Industrie wie die Atomwirtschaft sich naturbewußt geben darf, nur weil sie nach außen hin "sauber" erscheint. Und eine durch und durch amoralische Gentechnik, die sich daran macht, Patente auf DNS-Wesen anzumelden, um sich das Monopol ihrer wirtschaftlichen Nutzung zu sichern, sieht sich in stolzem Sendungsbewußtsein gar als elitäre Spitze der Evolution: Natur ist, was man daraus macht! Diese Auffassung ist das totale Gegenteil der ursprünglichen Bedeutung von Natur. Originalton Brockhaus: "Im übertragenen Sinn wird unter Natur alles das verstanden, was von menschlicher Tätigkeit unverändert da ist." Es ist offenbar wirklich an der Zeit sich zu fragen, ob wir den Naturbegriff nicht neu fassen müssen.

Vorarbeiter gibt es genug. Gedanken über Natur sind so alt wie das Bewußtsein. "Natur ist eine Projektion des Geistes" schreibt der englische Dichter William Blake (1757-1827) und meint damit vermutlich, daß Natur als Gegenüber im Grund erst dort entsteht, wo der Mensch aus ihr heraustritt. "Natur ist geronnenes Licht" konstatiert knapp Hoimar von Ditfurth, jüngst verstorbener Wissenschaftsautor. Der Romantiker F.W.J. Schelling (1775-1854) identifiziert Natur als den Geist, der sich noch nicht erkannt hat, und bereitet damit philosophisch die Evolutionstheorie vor. Für den Philosophen K.M. Meyer-Abich (geb. 1936) "kommt die Natur im Menschen zur Sprache", und er attestiert ihr, im Versuch ihr Wesen zu fassen, kurzerhand moralische Indifferenz: "Die Natur ist sowohl gut als auch böse; sie ist weder allein Idylle, noch Ort des Schreckens." Ähnlich äußert sich der Inder Paramahansa Yogananda (1893-1952) in seinem Buch Autobiographie eines Yogi. Für ihn ist Natur die Welt der Erscheinungen. Sie wird von der Göttin Kali dargestellt: "Kalis vier Arme symbolisieren ihre vier wichtigsten Eigenschaften - zwei wohltätige und zwei zerstörerische - und bringen das dualistische Wesen der Materie oder Schöpfung zum Ausdruck." Ebenso betont der Maler Vincent van Gogh (1853-1890) ihren zwiespältigen Charakter: "Die Natur ist auch streng und sozusagen, hart, aber sie betrügt nie und hilft stets vorwärts." Diese regenerative Kraft spricht ihr der oben zitierte Gottfried Benn jedoch ab. Er streicht die Abhängigkeit des Naturbildes vom herrschenden Zeitgeist heraus und sieht für die Zukunft Natur vollends in den Strudel der Zivilisation geraten: Natur als beliebig verformbarer Stoff, als Atavismus von Kunst und Kultur.

Über Jahrhunderte haben sich Philosophen, Religionsstifter, Künstler und Gelehrte aller Kulturen daran versucht zu ergründen, was Natur denn sei. Erst heute aber, da sie so sehr bedroht erscheint, wird diese Frage existentiell, und es zerbrechen sich ein paar Köpfe mehr darüber den Kopf. Insbesondere die, welche Natur schützen wollen, sind in der mitunter prekären Lage, begründen zu müssen, wo dieser Schutz nun anfangen und wo er aufhören soll. Wie natürlich muß die Welt, wie künstlich darf sie sein, damit die Menschheit gedeiht? Oder ist diese Frage schon falsch gestellt? Herrscht nicht ein völliges Mißverständnis von Natur vor? Muß es nicht dringend geklärt werden, um eine Selbstzerstörung der Menschheit zu verhindern?

Ein Problem ist die intellektuelle Unschärfe des Begriffes. Entweder ist Natur alles, oder sie ist nichts. Alles heißt: der gesamte Kosmos mit seiner Materie und seinen Kräften; nichts heißt: Illusion, Maya. Demnach wäre Natur ein unwirklicher Schleier, ein Film, der verschwindet, wenn der Projektor des Geistes abgeschaltet wird. Oder Natur wird in belebt und unbelebt unterteilt, und ist damit wieder alles. Aber gleichviel wie gelehrt solche Abstraktionen vorgenommen werden, es bleibt für den Verstand ein Geheimnis in dem Wort verborgen, und das Rätseln von Jahrtausenden scheint es nur vertieft zu haben.

Bei der Mehrheit der Menschen kommen Naturvorstellungen auch heute noch weniger in Gedanken als in Bildern zum Ausdruck: ein urwüchsiger, von Vogelgezwitscher erfüllter Wald, eine im Sonnenlicht blühende Frühlingswiese, der gepflegte Zierrasen vor dem Haus, ein nettes Arrangement von Blumen in der Vase; für andere mögen die Assoziationen auf das Wort Natur weniger angenehm sein: ein im Dunkel des Körpers wucherndes Geschwür, eine Horde von Ratten im Keller, Queckenfilz im Gemüsebeet, Fledermäuse lautlos in der Nacht.

Im Spiegel der menschlichen Seele hat Natur viele Facetten - freundliche, lichte, fruchtbare, aber ebenso finstere, bizarre, furchtbare. Die Empfindungen, die Natur auslöst, umfassen das ganze Kaleidoskop menschlicher Gefühle und reichen von Angst über Ekel bis zur hellsten Freude. Eine Umfrage zur Beliebtheit von Tieren weist das Rotkehlchen als stärksten Sympathieträger aus, am widerlichsten sind den meisten Befragten die Küchenschaben. Diese Bilder und Empfindungen geben aber nicht mehr Aufschluß über das Wesen der Natur als die Gedanken der Gelehrten. Sie verwirren eher und werfen neue Fragen auf: was hat ein Urwald noch mit einem Kübel voll hochgezüchteter Tulpen gemein? Wie weit können wir die "böse" Seite der Natur tolerieren? Schließlich entwickelt auch ein ungewaschener Kopf eine natürliche Dynamik spätestens dann, wenn sich die ersten Läuse darauf einfinden.

Selbst wer heute die geballte Sphäre der Zivilisation durchbräche, die uns wie eine russische Puppe umgibt, in purer Natur kann niemand mehr sein. Der Filter der Kultur hat alles verändert, was von sich aus da war. Die Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist auf so gut wie gesamter Fläche Kulturlandschaft, vom Menschen in Besitz genommen und durch seine Technik geprägt.

Auch naturnah verbliebene Lebensräume wie Moore oder Hochgebirgswälder können nicht mehr als Natur im Sinn unserer Ahnen erlebt werden. Dazu sind wir zu sehr im Bannkreis der Technik und ihrer Kunstprodukte aufgewachsen. Das Leben mit ihnen hat unsere Wahrnehmung und unser Denken schleichend, aber tiefgreifend verändert. Die Qualität unserer fünf Sinne hat sich gewandelt, und wir denken beim Thema Natur in ganz anderen Kategorien als die Generationen vor uns. Nur sehr mühsam können wir versuchen diesen Wahrnehmungssprung in Worte zu fassen und die Veränderungen zu rekapitulieren.

So wie sich das Selbstbild des Menschen und die Kategorien seiner Wahrnehmung im Lauf der Geschichte gewandelt haben, so auch sein Bild von Natur. Was Natur ist, bestimmt der Mensch, bestimmt die Kultur oder heute: die Zivilisation. Der nach Wurzeln grabende Sammler der Steinzeit hatte gewiß eine andere Natursicht als der Kunde eines Supermarktes, der nach Spargel in Dosen greift. Die Indianer, die sich unter dem Vollmond beim Gruppenfeuer gegen die kalte Prärienacht wappnen mußten, werden andere Empfindungen gehabt haben, als die zeitgenössische Familie, die im zentralbeheizten Wohnzimmer und bei künstlichem Licht die Abendunterhaltung im TV genießt. Gemeinsam aber ist allen Kulturen, daß im Menschen Natur beginnt, sich ihrer selbst bewußt zu werden.

Lange Zeit war der homo sapiens ein Gefangener von Blut und Boden. Der menschliche Geist löste sich erst allmählich aus der dunklen Kette von Geburt und Tod und warf ein stets heller werdendes Licht auf die Geschichte des Kosmos und des Lebens. Ein indischer Spruch faßt das Wunder der Evolution des Bewußtseins in vier Zeilen:

Gott schläft im Stein,
atmet in der Pflanze,
träumt im Tier
und erwacht im Menschen.

Mit dem Erwachen tritt tragischerweise eine Spaltung im menschlichen Wesen auf. Noch ist er Teil der unbewußten Natur, zugleich aber distanziert ihn sein wachsendes Bewußtsein zunehmend von der Natur seines Körpers und seiner Umwelt. Er hat jetzt die Freiheit der Gestaltung, aber im gleichen Maß befällt ihn Unsicherheit über das Wesen der Dinge, die ihn umgeben. Animismus, Magie, Mystik, Religion, Aufklärung - das sind einige kollektive Prozesse, mit denen er versucht eine neue existentielle Sicherheit zu gewinnen. Die Frage Was heißt denn schon Natur? ist letztlich Ausdruck dieser Suche. Der Mensch möchte gerade heute, wo Natur ernstlich gefährdet scheint, wo sie ihm innerlich so fern gerückt ist, mehr als je zuvor Gewißheit erlangen über ihr Wesen. Mit der Frage ist ein Kernproblem der ökologischen Krise getroffen. Es ist kein technisches Problem und kann auch nicht technisch gelöst werden. Es ist ein philosophisches Problem, ein religiöses, ein existentielles. Jetzt, am Ende der Zeitachse, werfen wir, angefüllt mit den Erkenntnissen aller Wissenschaft, einen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Etwas wie eine Figur taucht aus dem Nebel auf, aber es ist schwer zu fassen, was sie darstellen soll. Was ist Natur? Wer sind wir? Wir ahnen, daß wir Antworten brauchen, daß mit der weltumfassenden ökologischen Krise ein neues Kapitel in der Evolution des Bewußtseins aufgeschlagen werden muß. Aber wir sind ein wenig ratlos, welchen Text wir hineinschreiben sollen. Wir haben eine neue Welt erbaut aus der Kraft unseres Geistes, die moderne Industriegesellschaft, ein gewaltiges Imperium aus Stein, Metall und Elektrizität, das alles umgestaltet hat, was einstmals von sich aus da war. In gewissem Sinn haben wir der tragenden Idee unserer Kultur, dem Christentum, alle Ehre erwiesen. Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte einer Befreiung, einer Erlösung aus "den Fesseln des Irdischen". Wer möchte noch zurück in die Zeit, da feuchte Höhlenwände die Bewohner mit zwanzig, dreißig Jahren an Lungenentzündung hinsterben ließen, da kein Gesetz das Morden verbot und Cholera und Pest ihr Unwesen trieben? Davon sind wir erlöst. Vorläufig zumindest. So manche christliche Heilsbotschaft scheint erfüllt: der Geist hat über die Welt der Sinne triumphiert, der Herr der Finsternis hat seine Schrecken verloren, wir sind aufgefahren in ein irdisches Reich aus Licht, Fülle und Freiheit. Gibt es eine größere Hymne auf die Verheißung himmlischen Lichtes als eine nächtlich erleuchtete Großstadt? Ist die Erfindung der Luftfahrt nicht Vorbereitung auf diese eine letzte Fahrt der Menschheit - die Fahrt zum Himmel am Tag des Jüngsten Gerichtes? Ist die gleichbleibende Wärme der Häuser nicht ein immerwährendes seraphisches Fest? Haben wir uns nicht einen Himmel auf Erden gebaut? Haben Naturwissenschaft und Technik die Menschheit nach einem allzu langen Leidensweg nicht endlich von den dunklen Seiten der Natur erlöst?

Hölderlin (1770-1843) hat seinerzeit diese Frage negativ beantwortet: "Schließlich hat das die Erde zur Hölle gemacht, daß der Mensch sie zu seinem Himmel machen wollte." Dieses Wort hört sich bestürzend aktuell an. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß er Recht haben könnte. Die Befreiung von den Zwängen der Natur, auch von eigener Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit, hat nicht zu den Freuden geführt, wie sie jede Weltreligion verheißt. Im Gegenteil: der Verlust der Sinne hat in Gefühle von Sinnlosigkeit geführt. Die Angst wächst, Fremdheit und Verlorenheit machen sich breit. Immer neue apokalyptische Visionen steigen aus dem Schoß unserer Gesellschaft auf - Waldsterben, Ozonloch, Klimaschock. Werden sie Wirklichkeit werden?

Das menschliche Leben hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr verinnerlicht und das in einem ganz konkreten Sinn: es hat sich in Innenräume verlagert. Wer verläßt, offen gestanden, im Lauf seiner Arbeitswoche schon einmal seinen überdachten Lebenskreis aus Wohnung, Auto, Büro, Supermarkt, TV und Kino/Kneipe/Kirche? So ist es kein Wunder, daß der Zeitgenosse eher weiß, wo es das billigste Schweineschnitzel in der Stadt gibt als den nächsten Standort von Beinwell oder Schafgarbe. Und ebensowenig kann es verwundern, wenn eine Umfrage ergeben hat, daß Jugendliche im Schnitt etwa 19 Automarken kennen, aber nur 7 Pflanzenarten. Oder: welcher Städter vermag denn noch das Sternbild des Orion am nächtlichen Himmel zu unterscheiden?

Die bloße Natur ist ferngerückt, der Blick und die Empfindung für sie wird verdeckt von den Produkten und Bildern, die der menschliche Verstand und sein Werkzeug, die Maschine, daraus erschaffen haben. Diese äußere Distanz zu Natur ist offenbar Ausdruck eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Impulses, sie sich in ihrer rohen, "wilden" Form vom Hals zu schaffen. Trotz aller modischen Bekenntnisse zu ihr. Es wäre nur konsequent. Denn Zivilisation bedeutet letztlich nichts anderes als den Versuch, sich von den Launen der Natur unabhängig zu machen.

Der vorläufige Endpunkt dieser Bewegung nach innen, weg von der Natur, ist der Sieg der Medien über die Wirklichkeit. Die eigene sinnliche Wahrnehmung ist ersetzt durch technisch übermittelte Ideen, die keinen Geruch, keinen Geschmack haben, kein Tasten und Bewegen fordern, nicht die Aura des Realen besitzen. Auf diese Weise ist nicht nur die Natur draußen entmündigt worden, sondern schon die eigene Natur, der Körper und seine Sinnesfunktionen. Dieser Prozeß der Vergeistigung durch die Welt der Medien hat nicht die Erfüllung gebracht, die sich ihre Väter davon erhofft hatten.

Gottfried Benn hat diese Entwicklung prophetisch verkündet. Ganz Kind seiner Zeit, spürte er die wachsende innere Distanz des modernen Menschen zu seiner eigenen Natürlichkeit und damit zur Natur. Als Arzt erkannte er, daß die althergebrachte Verbindung zwischen Leib und Seele bei sich und seinen Zeitgenossen zu zerreißen begann. Übrig blieben in seinen Augen nur Körper und "Gehirne". Der Kosmos der Seele war atomisiert worden. Die Beliebigkeit der Moderne war geboren.

Sie bedeutet zugleich Gewinn und Verlust: Gewinn an Freiheit, Verlust aber an Geborgenheit, an innerer Verbundenheit mit Natur.

Wenden wir uns lieber der Perspektive der gewonnenen Freiheit zu. Prozesse der Verinnerlichung, und damit der Befreiung von den Zwängen der Umwelt, gab es schon immer im Lauf der Evolution. Sie können äußerst erfolgreich sein. Man denke nur an das Amniotenei der Reptilien und Vögel, an die damit einhergehende Verlagerung der Befruchtung in das Körperinnere der Tiere, eine Entwicklung, die von den Säugern fortgeführt wurde: ihre gesamte Embryogenese spielt sich im Körper des Weibchens ab. Ein ähnlicher Prozeß fand bei den Pflanzen statt. Die Bedecktsamer, die jüngste Großgruppe pflanzlicher Evolution, befruchten sich im Schutz eines Gewebeknotens. Dort geht auch ein Teil der Embryogenese vor sich. Säugetiere und Bedecktsamer gelten als erfolgreichste Lebewesen des Tertiärs und Quartärs. Verinnerlichung an sich muß also prinzipiell nichts Negatives für das Leben heißen.

Die Frage ist nur "welch Geistes Kind" dieser Prozeß der Verinnerlichung ist. Spätestens hier erweist sich die Frage nach Natur nicht als erkenntnistheoretisches Problem, sondern als moralische Aufgabe. Die mit der Loslösung von der Natur entstandene Freiheit ist keine Garantie für Erfolg, sie ist eine Chance der Evolution und sie ist zugleich eine Herausforderung für unsere Kultur. Ob die synthetische Natur, die Benn prophezeit hat, eine Natur des Lebens oder des Todes sein wird, das liegt in unserer Verantwortung. Es geht dabei ganz und gar um uns selbst. Denn Natur ist letztlich stärker als der Mensch. Sie hat eine Waffe, gegen die er machtlos ist: den Tod. Der Mensch kann zwar bis zu einem gewissen Grad den Körper der Natur, ihr Gesicht, ihre Figur ändern, nicht aber die Kraft, die sie durchdringt, das unsichtbar formschaffende Prinzip. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz wußte, daß der Mensch einen Krieg gegen die Natur nie gewinnen kann: "Wenn wir die Natur besiegt haben, werden wir uns auf der Verliererseite wiederfinden." Und auch Francis Bacon (1561-1626), der Vater der Naturwissenschaften, durchaus kein Romantiker, sondern kompromißloser Verfechter der Aufklärung, gab sich wenigstens in dieser Hinsicht keinen Illusionen hin, als er feststellte: "Wer die Natur beherrschen will, muß ihr gehorchen."

Es scheint so, als seien wir an einem historischen Wendepunkt angelangt. Die ökologische Krise ist das Signal zur Umkehr. Unsere bisherige Kulturgeschichte war eine einzige Erniedrigung von Natur. Jetzt gilt es, sie zu einer neuen Kultur zu erheben.

Im Anfang der Menschheit steht in vielen Mythen das Paradies oder ein Goldenes Zeitalter, ein Garten Eden, aus dem der Mensch gefallen ist. Im kollektiven Unterbewußtsein scheint eine Erinnerung daran fortzubestehen und der Wunsch, in diese glückliche Heimat zurückzukehren. Natur so verstanden repräsentiert einen gleichsam religiösen Zustand: in Harmonie zu leben mit sich und seiner Umwelt. Und tatsächlich könnte man am Grund unserer zivilisatorischen Bemühungen dieses Motiv ausmachen.

Nur, wie die gegenwärtigen Symptome zeigen, ist unsere Zivilisation in eine Sackgasse geraten, sind wir offenbar dem falschen Geist gefolgt. Der sieche Zustand von Natur ist ein untrüglicher Spiegel unseres eigenen Geisteszustandes - eine zunächst gewiß nicht schmeichelhafte Einsicht, aber doch Voraussetzung dafür, daß wir Natur endlich anders sehen lernen.

Die menschliche Psyche kann sich nur mühsam selbst beobachten. Sie erkennt und formt sich eher aufgrund der Reaktionen der Mitmenschen (Kritik, Lob) oder des eigenen Körpers (Krankheit). Ebenso erfährt der moderne Mensch erst aufgrund der heftigen und für ihn zerstörerischen Reaktionen der Natur etwas über die Entgleisungen seines eigenen Wesens. Er wird in einem bisweilen schmerzvollen Prozeß der Selbsterkenntnis zu seinen eigentlichen Bedürfnissen zurückfinden müssen. Das dürfte keine Strafe Gottes sein, wie Fundamentalisten drohen mögen, sondern die Frucht, deren Samen er selbst gelegt hat. Wie bitter sie sein wird, ist unsere Sache. Wohl erst unsere Nachkommen werden erkennen, auf wie tiefgründige Weise unser Innenleben mit der sichtbaren Natur verknüpft ist. Aber heute schon können wir sehen, daß Gier und bloßes Machtstreben nicht nur die eigene Lebensfreude, sondern auch die der Mitwelt erheblich beschneidet. Innere Freiheit, wirkliche Freiheit, ist nie Maßlosigkeit, sondern Anerkennung der eigenen Grenzen. Während es selbstverständlich scheint, daß es absolute Freiheit im zwischenmenschlichen und sozialen Bereich nicht geben kann, gilt gegenüber der außermenschlichen Natur immer noch ein Freiheitsbegriff, nach dem alles getan werden darf, wenn man es nur will und kann. Wenn der Mensch sich nicht freiwillig selbst begrenzt, wird ihm nur die Wahl zwischen Ökodiktatur und die Diktatur von Katastrophen bleiben. Die Freiheit, die wir von Natur gewonnen haben, muß jetzt durch die Sympathie für Natur ergänzt werden. Der umstrittene amerikanische Schriftsteller Henry Miller (1891-1980) wußte, worum es geht: ".. einmal die Welt als Schauspiel unendlichen Lebens und nicht als Behälter für Personen, Tiere und Gegenstände zu betrachten, die wir uns zu Diensten machen können." Aus einem solchen Blickwinkel ist Selbstbegrenzung kein Trauerspiel, sondern ein Akt echter Freude.

Die ökologische Krise ist eine Krise der Moral. Und es wäre fatal, sie nur erkenntnistheoretisch zu behandeln. Es wäre auch überholt. Denn erkenntnistheoretisch ist das Problem gelöst. Wir sind in der Natur und die Natur ist in uns. Wir können uns nicht auf eine Metaebene heben und gleichsam wie Gott die Schöpfung überblicken. Wir werden immer nur aus menschlicher Sicht über Natur reden können. So kam auch Carl Friedrich von Weizsäcker (geb. 1912) bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Bamberger Hegelwochen 1992 zu dem Schluß: "Die Frage, ob die Natur ein Eigenrecht auf unbeschadete Fortexistenz habe, ist für den menschlichen Verstand eine Nummer zu groß." Was wir aber tun können, ist es, an unserer moralischen Einstellung zu Natur zu arbeiten. Der Weg ist frei. Seit fast 2000 Jahren. In den von gelehrten theologischen Werken überbordenden Bibliotheken einer eutrophierten Kirchendynastie liegt ein einfacher Plan bereit, der die Richtung zeigt. Er besagt, daß Natur nicht nur geschützt werden muß, wie wir heute vielleicht meinen. Sie will mehr von uns. Sie will gefördert, bereichert, geliebt werden. In unserem Geist steckt das Potential dafür. Die synthetische Natur von morgen muß kein Albtraum sein, wie Benn befürchtet. Sie könnte ein neuer Garten Eden werden.