Hut ab vor dem Holunderbaum!
Mit dem Schwarzen Holunder beginnt die Vorstellung
fränkischer Wildpflanzen
Kaum ein anderer Baum genoß bei unseren Ahnen
eine ähnlich starke Verehrung wie der Schwarze Holunder,
auch Hollerbusch genannt. Noch unsere Großeltern wußten
den Rat zu geben: " Vor dem Holunder mußt du den Hut
ziehen." Der große Respekt entsprach einem alten, schon
bei den Germanen gehegten Glauben: in dem stattlichen Geißblattgewächs
würden die guten Geister wohnen. Es gab kein Bauernhaus ohne
"Hollerecke". Zu ihr ging man mit nahezu allen Beschwerden.
Schon von der Berührung des Stammes erhofften sich unsere
Vorfahren Heilung; oder sie bohrten Löcher in das Holz und
steckten Zettel mit der Bitte um Genesung hinein. Niemand hätte
es gewagt, einen Holunderbaum zu fällen, zu verstümmeln,
oder sein Holz zu verbrennen. Daß es sich dabei nicht nur
um naiven Volksglauben handelte, bestätigt die moderne Pharmakologie.
In den chemischen Labors wurde aus den weißen Blütendolden,
den gezackten Fiederblättern, der graubraunen, rissigen Rinde
und den schwarzen Beeren eine Vielzahl heilender Wirkstoffe isoliert:
ätherische Öle, Gerbstoffe, Cholin, Vitamin B1 und B2
und bis zu 18mg Vitamin C auf 100g Frucht.
Nahezu alle Teile des Holunders sind mit Heilkraft
erfüllt. Die Anwendungen dieses Wunderbaumes sind schier
endlos. Als schweißtreibendes Mittel bei Erkältung
wirkt ein Teeauszug der Blüten. Die getrockneten Beeren fördern
die Ausscheidung bei Nierenkranken. Rindentee hat sich bei Blasenleiden
bewährt. Eine besondere Delikatesse, die zudem Frühjahrsmüden
wieder auf die Beine hilft, sind Holunderküchlein: man wälzt
die ganzen Blütendolden in Omeletteteig und backt sie in
der Pfanne.
Nicht weniger als in der Heilwirkung kommt die Vitalität des Holunders in seiner Wuchskraft zum Vorschein. In wenigen Monaten treibt er drei bis vier Meter lange, kaum verzweigte Sprosse. Sie beinhalten weißes Mark, das sich leicht herauslösen läßt (althochdeutsch: holantar - hohler Baum). Während das Laub teilweise schon im Februar aus den Knospen bricht, entfalten sich die weißen Blütenschirme erst im frühen Sommer. Sie verströmen dann einen intensiv süßen Duft.
Die Fruchtbarkeit des Schwarzen Holunders ist enorm.
Ab Ende August schmücken schwarze Beeren in großen
Mengen den widerstandsfähigen Busch - mehr als genug, um
Menschen zu heilen und Tiere zu ernähren.
Der Hollerbaum ist ein großzügiger Gastgeber:
Rosenkäfer und Blumenfliegen laben sich am üppigen Pollenvorrat
der Blüten; die Blätter sind obligate Kost für
die Raupen des Holunderspanners, eines blaßgelben Nachtfalters;
und die Beeren sind bei Vögeln äußerst beliebt,
besonders bei der Mönchsgrasmücke und den Drosseln.
Die Großzügigkeit des Busches findet prompte Belohnung:
indem sie die mitverzehrten Steinkerne aussäen, helfen die
gefiederten Gäste dem Holunder bei der Samenverbreitung -
eines der vielen Beispiele, daß Natur nicht allein "vom
Kampf ums Überleben" (Darwin) bestimmt wird, sondern
ebenso von gegenseitiger Hilfe und Fürsorge. Aber nicht alle
Tiere schützen die Gaben des Schwarzen Holunders. So wird
behauptet, daß Maulwürfe verschwänden, wenn man
frische Holunderzweige in ihren Gang steckt.
Die Lebenskraft des Hollers ist so groß, daß
er fast überall Wurzeln schlagen kann. Nicht selten wächst
er an Mauern und Turmwänden. Holunderbüsche gelten als
hochgradig "industriefest", weil sie Abgase und Staub
ertragen - eine Eigenschaft, um deretwillen wir diese Pflanze
vielleicht bald noch mehr schützen werden.
Starker Wuchs, Robustheit und Heilkraft - das sind
Eigenschaften einer Pflanze, der nicht umsonst die Verehrung vergangener
Jahrtausende gewiß war. Ihre schützende und heilende
"Mütterlichkeit" hat im Märchen Frau Holle
Gestalt gefunden. Es wäre zu hoffen, daß mit der Renaissance
der Märchen auch der Hollerbusch zu neuer Wertschätzung
kommt.