Ein Führer in den Schlaf
Fränkische Wildpflanzen (8): der Echte Baldrian

Er war eine der Lieblingspflanzen der Weisen Frauen des Mittelalters: Valeriana officinalis - so der lateinische Name des Baldrians. "Ich bin wertvoll" bedeutet der Wortstamm valeo. und in der Tat: die Wurzel des mehrjährigen Krautes ist eine wirkungsvolle Arznei bei Nervosität, Schlaflosigkeit und Krämpfen - ein natürlicher Ersatz für moderne Sedativa wie Valium.

Aber die Wirkung des Baldrians reicht weiter. Die mehr innerlichen Naturen der Kräuterfrauen fühlten seinen profunden Einfluß auf das Bewußtsein. Sie nannten ihn Mondkraut oder Elfenkraut und deuteten damit den direkten Draht des Baldrians zu den Schattenseiten der menschlichen Psyche an. Pflanzliche Wurzeln und menschliches Unterbewußtsein stellten für sie eine Analogie des Verborgenen dar: einander in ihrem Wesen verwandt, vermögen Wurzelarzneien die "unterirdische" Seelenkräfte zu harmonisieren. Ein Kaltwasserauszug der Valerina-Wurzeln beruhigt so vollständig, daß man meint, "man liege auf einem moosigen Waldboden und höre das angenehme Rauschen eines Waldbaches".

Inwieweit er als häufig gegen die Pest angewendetes Heilmittel taugt, bleibt zweifelhaft. Es ist überliefert, daß sagenumwobene Wildfräuleins und mystische Vogelrufe den Menschen dazu aufgefordert hätten: "Eßt Pimpernell und Baldrian, dann gehet Euch die Pest nichts an". Die Beruhigende und schlaffördernde Wirkung hingegen ist auch in der heutigen Pharmakologie unumstritten.

Zur Anwendung zerkleinert man die getrockneten Wurzeln, die im Herbst nach der Blüte ausgegraben werden sollten (manche meinen bei Vollmond), und gießt sie mit kaltem Wasser auf. Es ist wichtig, daß dieses Gemisch einige Stunden zieht, bevor der Tee getrunken wird (lauwarm und in kleinen Portionen). Auch als Badezusatz und in Tinkturform hat sich der Echte Baldrian bewährt.

An den hohen Wuchs (bis 1,50m), den gefiederten Blättern und den rosa überlaufenen Blütenschirm ist der Baldrian leicht zu bestimmen. Die Vielzahl und Dichte seiner Blüten gleicht deren geringe Größe aus. Die Blüten tragen Honig, der auch für kurzzüngige Insekten erreichbar ist. Zu finden ist das Heilkraut durchweg auf nassen, nährstoffreichen Böden: an Gräben und Ufern oder auf feuchten Wiesen und bachbegleitenden Hochstaudenfluren. Je weniger feucht die Pflanze wächst, desto intensiver ist ihr Aroma. Deshalb sind die Bergformen wesentlich duftreicher. Bei oberflächlicher Betrachtung mag der Baldrian irrtümlich als Doldenblüter erscheinen. Er bildet aber mit einigen anderen Arten einen eigenen Familienkreis, der nach ihm benannt ist: die Baldriangewächse. Dazu gehören beispielsweise auch der Berg-Baldrian und der Wilde Speik.

Bekannt ist die sprichwörtliche, enorme Anziehung, die Baldrian auf Kater ausübt: der an Schweißfüße erinnernde Geruch versetzt sie unwiderstehlich in Hochzeitstimmung. Dieser Effekt ist Inhalt manchen harmlosen Streiches. Der französische Name "herbs aux chats" (Katzenkraut) bezieht sich direkt darauf.

Auch Ratten werden vom Duft des ätherischen Öls, das die Wurzeln in besonders hoher Konzentration enthalten, angelockt - ein Phänomen, das man sich bei der biologischen Schädlingsbekämpfung zunutze macht: statt Strychnin kann die Baldrianwurzel als Fallenköder für Ratten eingesetzt werden.

Der Echte Baldrian zeigt stark gegensätzliche Wirkungen: während er manche Tierarten anlockt und erregt, schenkt er dem Menschen hingegen Beruhigung und führt ihn in sanften Schlummer und Traum.